Heimkind „Nemo“ – als ich den deutschen Jungen auf der Stuttgarter Königsstraße traf

Es ist schon 3 Jahre her, als ich an einem Wochentag im Sommer 2022, morgens durch die Stuttgarter Königsstraße lief.

Das tat ich zu dieser Zeit öfter. Damals hatte ich erst die Gerichtsverhandlung mit meinem Porno-Ex hinter mich gebracht.

Die Gerichtsverhandlung fand am 11.11.21 statt und er hatte eine Frist bis Februar 2022 erhalten, um die tausenden Aufnahmen und hunderte Videos mit mir von seiner Webseite zu nehmen.

Um meinen Fall und damit meinen Ex-Lebenspartner, mit dem ich 6 Jahre ohne Trauschein, ohne Ehevertrag, zusammengelebt habe, vor Gericht zu bringen, musste ich 9 Jahre kämpfen und so einiges aushalten.

Denn getrennt von ihm habe ich mich bereits an Weihnachten 2012 und endlich ausziehen ausziehen, mich also räumlich von ihm trennen, konnte ich erst im März 2013 umsetzen.

Nun war es 2022 geworden und ich hatte so etwas wie einen persönlichen Meilenstein erreicht, der sich aber nicht so anfühlte.

Den Ersatz, den ich für den Schaden, den mein Ex mir mit seinem Verhalten nach der Trennung angetan hat, geht weit über das hinaus, was ich an „Wiedergutmachung“ erhalten habe oder wahrscheinlich je werde.

Diese Beziehung war eine Niederlage durch und durch.

Und ich fühle mich in diesen Angelegenheiten von einigen Menschen, Akteuren der Judikative und Akteuren der Exekutive im Stich gelassen.

Es ist, so musste ich es wohl in den letzten 5 Jahren einsehen, dass man meinte, man könne mit mir deshalb so umgehen, weil ich eine Frau bin.

Das ist nicht nur für meine Angelegenheiten eine große Schieflage, sondern es ist vor allem eine Schieflage für uns alle, also für unsere Gesellschaft.

Ich will und werde diesen Umstand niemals akzeptieren.

Wenn wir Frauen Rechtsbeistand brauchen, dann muss dieser Rechtsbeistand vernünftig durchgeführt werden. Von der Judikative, von der Exekutive und von allen anderen, die beteiligt sind.

Nun denn, zurück zum eigentlichen Thema dieses Beitrags: der Junge von der Stuttgarter Königsstraße.

In diesem Sommer 2022 bin ich auch für mich bewusst in die Phase der Regeneration, des Vergessens, des Abschließen, des Realisieren, der Reflexion gegangen und dazu gehören auch Spaziergänge und das in den Tag hinein leben mit ungewissem Ausgang.

Ich zog also wiedermal an einem sonnigen Morgen durch die belebte Stuttgarter Königsstraße.

Als mir ein blonder Junge auffiel, der da mit kaputten Klamotten, barfuß, dreckig, ungepflegt, an einem Einkaufshaus anlehnte.

Eine ältere Dame war gerade bei dem Jungen und gab ihm eine Tüte vom Bäcker.

Sie war wohl auch von dem Anblick dieses Jungen geschockt und sie sagte, dass das doch nicht so gehen könnte und dass doch das Arbeitsamt in der Nähe wäre wo er sich Arbeit suchen könnte.

Sie sagte zu dem Jungen, dass sie ihm das Geld für die U-Bahn geben würde, damit er dort hinfährt und sich Arbeit sucht und hielt ihm ein paar Euro hin.

Ich stand da. Die Frau hat mich bemerkt und wollte mich in ihre Überlegungen, wie dem Jungen geholfen werden kann, mit einbeziehen.

Ich sagte, dass es für mich so aussieht, als müsste da mehr für diesen Jungen passieren, als ihm nur mal eben ein paar Euro für die U-Bahn zugeben.

Die Königsstraße ist die wohl bekannteste Straße von Stuttgart. Eine Einkaufsstraße, die auch unter der Woche sehr stark frequentiert ist.

Und es ist quasi normal geworden, dass zum Hauptbahnhof hin überall in den Ecken Obdachlose ausländischer Herkunft ihre Lager haben. Rumänen, aber auch andere Nationalitäten trifft man dort an.

Aber dass ich dort nun ein deutschen Junge liegen sehe, der sich offensichtlich nicht darüber freut, sondern eher einen ohnmächtigen, hilflosen, traurigen Blick hat, das hat mich getroffen.

Wie kann es sein, dass ein deutscher, junger Mann im Sozialstaat Deutschland auf der Straße betteln muss und offensichtlich keiner diesem Jungen seit langem eine adäquate Unterstützung bietet?

Ein absolutes Unding, wie ich finde! Wir, Deutschland, sind ein reiches Land und da darf so etwas nicht passieren.

Ich schaute den Jungen an und fragte ihn, was er vor hat und warum er hier rumliegt?

Er war wohl überfragt und auch ohne Hoffnung.

Ich sagte, wenn er will, dass ich etwas für ihn tue, muss er mitkommen. Und so stand er auf und ging mit mir in den nächsten Klamotten-Laden.

Er konnte sich ein paar Sachen aussuchen und so suchte er sich einen Jogginganzug, eine Jeans und ein Hemd aus.

Dann gab’s noch Schuhe und ich war glücklich damit, dass er mein Angebot annahm und zahlte ihm diese Sachen.

Zwar hatte ich wenig Geld, aber der Junge war wohl noch ärmer dran als ich…

Als Nächstes gingen wir in ein Café und unterhielten uns.

Er erzählte mir, dass er seinen Vater nie wirklich kennen gelernt hat.

Er meinte, dass sein Vater wohl bei der Bundeswehr war und nur davon wüsste, dass er dort entlassen wurde.

Es stellte sich heraus, dass er keinen Personalausweis hatte und er erzählte mir auch, dass er natürlich eine Arbeit haben wolle.

Natürlich glaube ich dem Jungen und verabredete mich mit ihm, um mit ihm gemeinsam zur Arbeitsagentur zu gehen.

Unser Besuch bei der Arbeitsagentur

Nemo (so nenne ich ihn, ist aber natürlich nicht sein richtiger Name) kam, wie vereinbart zum Treffpunkt und wir gingen gemeinsam zur Arbeitsagentur.

Er war unbeholfen, auch ein bisschen ängstlich. Aber er kam mit mir mit und ich dachte in diesen Momenten an meine Mama, an meine Familie und an meine Omas. Ich habe ganz viele gute Erinnerungen, wie in meiner Familie mit Problemen umgegangen wurde. Da war es laut. Da hat man geflucht. Da man man sich gestritten. Aber niemand hat den anderen vergessen und sogar wurden die Probleme des Nachbarn oder der Nachbarin mit einbezogen.

Es wird keiner zurückgelassen. Und es gibt für alles Wege und Lösungen.

Nemo ist Familie. Er ist ein junger deutscher Mann, der Rechte hat und der sein Leben bestreiten will und der seinen Teil leisten will.

So und nicht anders sehe ich junge Menschen an.

Bei der Arbeitsagentur konnten wir ihn als „arbeitssuchend“ anmelden und er bekam eine Kundennummer.

Das ist doch schon was!

Das war schon mal ein Anfang.

Allerdings konnte das Arbeitsamt nicht mehr tun und verwies uns an das Jobcenter.

Unser Besuch beim Jobcenter

Das Jobcenter ist quasi gegenüberliegend von der Agentur für Arbeit und so gingen wir also direkt dort hin.

Am Empfang sprachen wir dann mit den Mitarbeitern dort.

Die schauten in seinen Unterlagen nach und fanden heraus, dass er als „eingeschrängt erwerbsfähig“ geführt wird.

Nun er sagte ja bereits, dass er in einer Unterkunft wohne und schimpfte über seine Betreuer.

Was macht man da, wenn man als junger Mensch schon in der Kartei als „eingeschränkt erwerbsunfähig“ geführt wird ?

So, wie ich es verstanden habe, braucht es dann ein psychologisches Gutachten.

Und das wird in einem zeitlichen Abstand durchgeführt.

Ich bin nicht involviert in diese Prozesse, die doch sehr verwalterisch zu sein scheinen, aber da ist ein junger Mensch, der mir erzählt, dass er schon seit klein-auf mit Medikamenten gestopft wird und augenscheinlich wird er auch vernachlässigt.

Unser Besuch beim Bürgerbüro

Wir gingen gemeinsam zum Bürgerbüro nach Bad Cannstatt um dort seinen Personalausweis zu beantragen. Denn er hatte keinen mehr.

Warum er keinen hatte, ist mir unklar.

Überhaupt frage ich mich, wie das sein, kann, dass da ein junger Mann ist, der offensichtlich sein Leben lang weder gefördert, noch gefordert wurde?

Aber dafür sein Leben lang mit Medikamenten zugestopft wurde.

Wenn das kein Skandal und eines der schlimmsten Verbrechen eines Sozialstaates ist, weiß ich’s auch nicht.

Nemo und ich warten vor dem Bürgerbüro in Bad Cannstatt, September 2022

Wir hatten für ihn nun eine Kundennummer beim Arbeitsamt, die Info über seinen Status als „beschränkt erwerbsfähig“, seinen Personalausweis beantragt und er bekam meinen Rucksack, einen Ordner und ein Notizbuch mit nem Kugelschreiber.

Als Nächstes machten wir uns daran ihm einen Job zu besorgen.

Die lieben Menschen vom Jobcenter hatten uns den Tipp von der Einrichtung Namens „Jobconnection“ gegeben. Eine Einrichtung von der Evangelischen Gemeinde.

Da kann man hingehen und nach Jobs suchen.

Das taten wir dann auch.

Wir gingen dort hin und fingen an nach nem Job zu suchen.

Bei der Gelegenheit konnte Nemo Passfotos von sich machen lassen.

In seinem neuen Hemd.

Nun. Wir verabredeten uns regelmäßig dort und Nemo kam auch immer und ich hatte den Eindruck, dass er sich Mühe gibt und auch will, aber nur nicht weiß wie er es anstellen soll.

Ist ja auch verständlich, denn er hat es wohl auch noch nie gezeigt bekommen.

Wir sind einmal zu einer Bäckereikette gegangen und sprachen mit der Leiterin dort.

Das war sein erstes persönliches Gespräch.

Sowas ist nicht leicht für jemanden, der das noch nie gemacht hat.

Auch führte er an einem anderen Tag sein erstes Telefonat mit einem Unternehmen.

Ich stand neben ihm und beobachtete ihn.

Dieses Telefonat hat ihn extrem angestrengt. Er war so geschafft, dass er danach weinen musste und wir uns umarmt haben.

Danach wollte er unbedingt raus, eine Pause machen. Ich folgte ihm nach ein paar Minuten.

Er stand nicht vor der Tür, war nirgends zu sehen und so verließ ich Jobconnection und ging zur U-Bahn-Haltestelle.

Gerade hielt eine U-Bahn erstaunlich lange und als ich diese endlich erreichte und einstieg, registrierte ich, dass etwas passiert war.

Die U-Bahn-Fahrerin weinte und es kümmerten sich ein paar Leute um sie.

Dann bekam ich mit, dass wohl jemand vor die U-Bahn gesprungen ist und es beinahe eine Katastrophe gegeben hätte.

Ich ahnte Schlimmes.

Die Polizei kam und suchte einen jungen Mann. Es war Nemo.

Er saß vor dem Jobcenter und es standen bereits Polizisten bei ihm.

Und so abrupt wie diese Begegnung mit Nemo anfing, so hörte sie auch auf.

Wir hatten über WhatsApp nochmal geschrieben.

Er meinte er würde wohl jetzt erstmal nicht mehr kommen können.

Er wäre jetzt in einer Einrichtung in Bad Cannstatt.

Natürlich werde ich Nemo und unsere Arbeit nicht vergessen.

Nemo hatte wohl nie eine richtige Familie.

Ein Umfeld, wo er heranwachsen und lernen konnte.

Stattdessen bekam er Medikamente seit er 3 Jahre alt war, wurde ständig zwischen Heime hin und her geschickt.

Zu gerne hätte ich unsere Connection fortgeführt.

Drei Jahre später sah ich ihn wieder

In der U-Bahn stieg er mit einer Frau und einem Kind ein.

Nun hat er wohl eine kleine Familie.

Er ist wohl Vater geworden.

Auf der einen Seite ist das eine schöne Nachricht.

Auf der anderen Seite bedrückt mich sein Schicksal und lässt mich immer nachdenklich sein.

Ich meine, was erwarten wir von Menschen, die von klein auf ihr ganzes Leben so einen Bullshit durchmachen müssen?

Und wie vielen jungen Menschen passiert so etwas in Deutschland?

Wie viele von den in Heimen und Klinken sitzenden oder lebenden jungen Menschen sind Deutsch?

Wir lieben Kinder, wenn sie klein und süß sind. Wer liebt unsere Jugendlichen?

Lieber Nemo, du hast dein Leben noch vor dir! Entwickele dich! Lass dir keinen Unsinn erzählen, lese,lerne, frage die Menschen.

Mein Post auf LinkedIn zu dem mich der junge Mann inspiriert hat

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