Ein Bürger-to-Bürger-Investment
Freitag, 11.07.25. Stuttgart.
Ich bin zu Fuß auf dem Weg zum Fitnessstudio. Mein Weg ist ca. 5 Minuten lang. Ich komme an einen Mann vorbei, den ich schon einige Tage vorher an dieser Stelle bemerkt habe.
Heute, so denke ich mir, spreche ich ihn an.
Ich verbringe fast eine Stunde mit ihm und habe folgende Informationen erhalten:
Kai, aus Pirmasens, 49 Jahre, 5 Kinder 29/2×26/18/5 Jahre, Heizungsinstallateur Meister, Ingenieur für Versorgungstechnik, Deutsch, tätowiert, Rucksack, Schlafsack, zwei leere Flaschen Wodka, 1 kleine Cola-Flasche, 1 kleine Wasserflasche, mag Fleischgerichte und ganz besonders ein Gericht aus der Pfalz, das aus großen Teigknödeln, Milchsoße mit Speck und Kartoffeln besteht.
Kai arbeitete zuletzt auf 450 Euro Basis, fiel mal von 12 Meter Höhe runter, hat deshalb eine versteifte Wirbelsäule und auch schon mal an Selbstmord gedacht.
Ich sitze die ganze Zeit mit ihm auf dem Boden und quatsche mit ihm.
Das Gespräch ist nicht fließend, sondern es gibt Pausen. Und immer und immer wieder frage ich ihn, was sein Plan sei. Und er antwortet, dass er keine Kraft hat, sich zu bewegen.
Ich biete ihm meine Banane an. Das mache ich mehrmals und er lehnt mehrmals ab. Aber ich lasse sie dort liegen.
Kai führt ein Krieg. Ein innerlichen Krieg mit sich selbst. Er hat sich innerlich festgefahren und hat das Gefühl, dass es keinen Ausweg gibt.
Ich beobachte in den Pausen die Passanten, die an uns vorbei laufen. Jeder hat seinen Plan. Jeder hat wohl, wie es scheint, ein Ziel, dass er oder sie erreichen möchte.
Auch ich ging die letzten Tage an Kai vorbei. Als Passant. Mit einem Ziel.
Und nun habe ich mich entschieden, mich zum Kai zu setzen und mit ihm zu reden. Kai ist ein Deutscher, studiert, fünf Kinder. Das ist doch was. Er fragt mich nach einem Taschentuch. Ich habe keins, aber ich kann die vorbeilaufenden Passanten ansprechen. Das tue ich und eine Passantin mit Kinderwagen reicht mir ein Taschentuch. Gleich darauf kommt eine weitere Passantin und bietet mir eine Packung Taschentücher an. Ich nehme sie dankend an und gebe sie an Kai weiter.
Ich kenne Menschen, wie Kai. Sensibel, ehrlich arbeitend, sich darauf verlassend, dass man ein gutes Leben hat, wenn man sich Mühe gibt.
Ihm sind Dinge passiert, die er oder jemand anderer nie hätten vorhersehen können.
Unvorhergesehene Dinge passieren = ein Naturgesetz, dem wir alle unterstellt sind. Ein Naturgesetz, dass unsere Vorfahren bei der Erschaffung unserer Verfassung mitbedacht haben.
Eine Demokratie zeichnet sich auch durch das Vorhanden-sein eines Sozialstaates aus.
Der Staat, der ein förmlicher Zusammenschluss von Menschen ist, kennzeichnet sich dadurch aus, dass er anerkennt, dass jedem Einzelnen von uns unvorhersehbare Dinge passieren können und stellt sich darauf ein, im Falle eines Falles, Hilfe bzw. Unterstützung geben zu können.
Das ist der Hauptgrund, ja sogar die Kernaufgabe einer Gemeinschaft.
Der Sinn einer Gemeinschaft.
Wenn dieser nicht mehr gegeben ist, wird sich die Gemeinschaft auflösen.
Jeder Bürger investiert irgendwann in einen anderen Bürger und trägt durch diese Investition für die Gemeinschaft bei.
Was bedeutet Freiheit, wenn wir uns nicht in schweren Zeiten auf die Güte, Herzlichkeit, Hilfsbereitschaft des anderen einmal stützen können?
Freiheit ist sich in einer Gemeinschaft zu wissen, die keinen zurücklässt.
Und wenn mal jemand zurückbleibt, dann wird ein Stärkerer zurückkommen und sich seiner annehmen.
Ich wünsche mir für Kai, dass es ihm bald wieder besser geht und dass die Menschen auf seinem Weg die Güte und Kraft aufbringen können, um Kai beizustehen.
Er berichtet mir, dass er keine Kraft hat und deshalb hier liegt.
Ich bin mir nicht sicher wen ich in so einem Fall anrufe. Die Polizei? Den Rettungsdienst? Die Feuerwehr?
Ich rufe die örtliche Polizei an. Nicht über 110, sondern über die lokale Nummer. Eine Frau geht ran. Ich schildere ihr die Situation und frage nach wen ich da anrufen soll.
Die Dame klingt selbst ein wenig überfragt. Sie meint ich solle es mal bei dem Rettungsdienst versuchen und sonst nochmal bei ihr anrufen.
Den Rettungsdienst rufe ich über 112 an. Ich sage direkt, dass es nicht eilt und erkläre, dass hier ein Mann seit drei Tagen liegt und sich nicht fortbewegen kann, weil er keine Kraft hat. Man sagt mir, dass dies kein Fall für sie wäre und ich die Polizei kontaktieren soll.
Ich rufe also wieder die Polizei an und erreiche die gleiche Dame. Sie hat mich wohl schon erwartet und sagt, dass sie Kollegen vorbei schickt.
Ich warte bis die Kollegen von der Polizei kommen und schildere die Situation. Dann nimmt die Frau Polizistin meine Kontaktdaten auf. Sie fragt mich auch, was ich mache. Ich antworte ihr.
Sie sagen mir, dass sie sich kümmern werden. Ich verabschiede mich von Kai und sage ihm, dass er einen Entzug machen soll.
„Ergreife die Chance, Kai.“

Kinder Leben heute in einer crazy World und brauchen jede Unterstützung, die sie kriegen können.
Kai nimmt meine Banane an und sagt laut „Danke!“
Die Polizisten drehen sich in diesem Moment zu mir.
Ich verlasse die Situation mit einem unguten Gefühl.
Habe ich alles getan was ich konnte für diesen Mann?
Würde mir jemand helfen, wenn ich auf der Straße liege?
Was ist los mit Kai, ein Deutscher, ein Ingenieur, ein fünffacher Vater…
Was ist los mit unserem System, dass man Personen so nicht helfen kann?
Ich hätte Kai niemals getroffen, wenn ich nicht in der Situation wäre, in der ich bin.
Ein Sozialstaat zeichnet sich dadurch aus, dass Menschen, die einmal nicht stark in ihrem Leben sind, nicht vor die Hunde gehen.
In einem sozialen Staat gibt es überall mindestens einen Strohhalm.
Welche Art von Mensch müssten wir werden, um komplett auf Strohhalme verzichten zu können? Ein Roboter-Mensch?
Kai, ich wünsche mir, dass du voran kommst und es Dir gut geht!
Beste Grüße
Bianca
PS: Glück ist das, was sich vermehrt, wenn wir es teilen

